Das Lalish Theaterlabor – Die “sichtbare” Stimme

 

„Stimme für das Auge und nicht nur für das Ohr.
Singe, damit ich dich handeln sehe!“

Nigar Hasib


Das traditionelle europäisch-amerikanische Theater, dass schon immer mit einem geschriebenen dramaturgischen Text eng verbunden war/ist, hat im allgemeinen die Rolle der Stimme auf die Deklamation dieses Textes durch die vom Schauspieler artikulierten Worte eingeschränkt. Hauptsächlich im Dienste verbaler Dialogen mit diversen Inhalten und Bedeutungen verwendet, im europäisch-amerikanischen Theater ist die Manigfaltigkeit der Stimme häufig unterschätzt und missachtet worden.
 

Doch, dass die Stimme viel mehr als ine Wortartikulierung oder Deklamation eines auswendig gelernten Textes ist, könnte man erfahren, falls man die Möglichkeit hätte Zeuge eines vom Lalisch Teater  aus Wienna, aufgeführten Performances zu sein. Zuschauer von Aufführungen eines solchen Theaters zu sein, bedeutet, die Macht und die wahrhafte Kraft der menschlichen Stimme bis zur Unendlichkeit erlebt zu haben. Eine Stimme, die wie eine untertauchte “vokale Atlantida” in den verlorenen Tiefen der menschlichen Seele und Labyrinthen des menschlichen Körpers weiterhin versteckt bleibt. Auf den Spurensuche dieser “vokalen Atlantida”, durch ihre ethnologische und anthropologische Expeditionen früherer Kulturen und Zivilisationen, befinden sich nämlich zwei “primitive Schöpfer” dieses Theaters, die Nigar Hasib und der Shamal Amin aus Kurdistan.
Mit einer ungewöhnlichen Liebe und Leidenschaft, durch die in das Lalisch Theater täglich durchgeführten Untersuchungen, sind sie seit Jahren bemüht, die Mysterien der menschlichen Stimme zu erforschen. Fern von der österreichischen wienner Mondanität, mit dem sie nichts verbindet, ausser dem Ort in dem sie schaffen, durch ihr “primitives” Jodeln, manchmal den albanischen Auffrufen und den sogenannten “über den Schulter Lieder” sehr ähnlich, scheinen sie eine einzige jedoch uralte Frage zu stellen: Was ist Theater?


In einem fast leeren Raum, ohne Bühnenbild und Ausstattung, sondern nur mit einem einzigen weisen Hintergrundsstoff, zwei stuhlähnliche Holzstücke und einem Wasserfass aus Metal, mit einer statischen Beleuchtung, ohne Licht-Schatten, in schwarze (manchmal auch rot-schwarze) Kostüme, ohne die klasischen “blumigen” Dekorationen, ohne Make-up und ohne (nachahmende) Masken der Diener – Charaktere, mit einfach gebundenen oder freigelassenen schulterlangen Haaren, barfuss, wobei die Füsse und Zehen während des Laufens, der Bewegung oder des Antasten des Bodens ein feinfühliges milimetrisches Extrem darstellten. All Das zusammen mit den manschmal explosiven manchmal melancholischen Stimmen, deren Farbe und Rhythmus die ganzen Gefühle und Körperbewegungen orientiert, schöpfte vor den Zuschaueraugen einen exotischen Ausblick, der sowohl den primitiven Höllenzeichnungen der Steinzeit als auch dem während des Lesens von Tragödien der Antike, homerischen oder uralten sumero-babylonischen Epchos, gewonenen unklaren Blick ähnlich ist. Beispielsweise, in einem Augenblick, als der Wind mit dem Rhythmus der Meereswellen ihre Haarmähne weht, kann Klythaimnestra in Gestalt von Nigar Hasib auftauchen. Während, etwas davon entfernt, als der erschreckende Schall einer Stimme gegen den Gesteinen prallt, könnte ganz plötzlich, im Gestalt des Shamal Amin, die schreckenerregende Figur des Agamemnon vor dir stehen. Aber, dieses Image ändert sich unverzüglich.
Denn, es kann passieren, dass Shamal Amin als Gilgamesch oder eben als der gestörte Ulysses wiederauftaucht, während die erschrockene Penelope verkörpert von Nigar Hasib, mit einer grosartigen Feinfühligkeit eine Handvoll Wasser aus dem metalischen Fass ausschüttet. Und so geht es endlos weiter, bis sie wieder in ihrer wahren Identität zurückkehren. Um dann wieder in eine “andere” Identität zu schlüpfen. Es ist nicht wichtig in welchem Raum und zu welchem Zeitpunkt. Aus etwas, was einem “leeren Raum” ähnlich ist, wird später ein mit Stimmen und Bewegungen erfülltes Feld, wobei sich die Mitte im “Niergendswo und Überallhin” dreht, in einer Zeitspanne von “Niemals und Immer”.


Aber, was für ein Theater ist das, in dem die “handelnden Personen” zeitgleich “Jemand” und “Niemand” sind? Was sind das für Stimmen, die mal explosiv mal traurig sind, mal erschreckend mal melancholisch, mal streichelnd mal erotisch, dann wieder explosiv, donernd, erschreckend, aufrufend und zerstörerisch, in der Lage sind alle Gefühle, Sinne und jeden Teil unseres Körpers zu verankern? Was ist das für eine “neue Sprache” mit so vielen “Lieder”, Töne, Silben, Wörter und Texte, die oft nicht zu dekodieren sind? Letztendlich, was für ein “Theater” ist das, in dem zwischen den Liedern, Szenen, Situationen sowie der Erzählung selbst keine Verbindung besteht?


Das sind nur einige von Fragen, die man, je nach dem Blickwinkel, unterschiedlich antworten könnte. Das Wesen dieser Antworte, ist vor allem mit der Art und Weise verbunden, wie man im Lalisch Theaterlabor mit der Stimme umgeht, wie es betrachtet und behandelt wird, von welchem Teil der Seele oder Körperteil entsteht und wie wird es plaziert. All diese Tatsachen, treiben uns dazu länger darüber nachzudenken, über die unendlichen Möglichkeiten der menschlichen Stimme einerseits, und über die Grenzen und Einschränkungen, die unser Gegenwartsmensch unter dem Urbanisierungsdruck seiner Stimme angetan hat.


Im Lalish Theaterlabor ist die Stimme nicht nur zu hören, sondern etwas Sichtbares, das handlungsfähig ist. Nigar Hasib sagt:
„Stimme für das Auge und nicht nur für das Ohr. Singe, damit ich dich handeln sehe!“. Aber, wie kann man eine Stimme “sehen”? Anders als im europäischen-amerikanischen konventionellen Theater, in dem die Stimme von seiner dem dramaturgischen Dialog dienenden Rolle betrachtet wird – sei es in Form einer Konversation oder Austausch von Repliken, wobei aus dem Verstehen dieser Inhalte auch die Intonation der Stimme, die Gefühle, die Handlung und Gestik der Schauspieler abhängt – in das Lalish Theaterlabor, völlig von diesen stereotypischen Konventionen befreit, bricht die Stimme in all seinen möglichen Dimensionen aus. Sei es mit einer vollen Kraft der donernden Aufrufe, sei es mit Verfärbungen, Nuancen, Vibrationen und ziternden Seufzungen der Seele. Die wiederum in einer sehr spontanen Art und Weise, Gefühle wecken und ableiten, Wandlungen der Mimik, Gestik des ganzen Schauspieler-Leibes, der durch seine Gestik, Bewegungen und Handlungen poetische Inhalte darbietet.

Die Stimme ist also, dass was dem Körper den Impuls gibt. Durch seine Handlungen und Bewegungen dann, unabhängig von der Präsenz oder Abwesenheit der (nicht)verständlichen Wörter, versuchen wir die dargebotenen Zeichen festzustellen und im Rahmen eines semiologischen Kontextes sie zu dekodieren und inhaltlich zuzuordnen. Auf dieser Weise wird die Stimme audio/visuellisiert d. h. wir “hören” sie nicht nur, sondern wir “sehen” sie. Nigar Hasib, beschreibt diesen Vorgang genauer folgendermaßen: “Die Lieder schöpfen unsere Handlung, aber unsere Handlungen stellen nicht die Texte unserer Lieder dar. Jedes Lied, jede akustische Handlung gibt vor, das genaue Ergebnis der körperlichen Bewegungen. Der Körper ist in direkter Verbindung zu ‘Leben und Geräuschen’ und seine Handlung anstatt einer sauberen Technik, wird organisch. Auf dieser Weise ist die Handlung nicht nur ein Teil des Körpers oder nur ein Teil der Stimme, sondern der beiden gemeinsam, wobei eine Harmonie entsteht. Denn, die Harmonie ist die originellste Quelle jeder Ausdrucksweise”. Des weiteren, lt. Shamal Amin, wird dadurch der Versuch unternommen “einen fliessenden Raum zu schaffen, in dem die Stimmen und die Lieder in eine Zufriedenheit umgewandelt werden können” und wobei “die Stimme einer Handlung ähnelt, die immer die Entdeckung des Neuen ermöglicht”.


Auf der anderen Seite, die Lieder selbst bzw. die Texte, die Wörter und deren Inhalt, dienen im Lalish Theaterlabor weder zum Selbstzweck noch als Richtungswegweiser einer Aufführung. Unabhängig von der Bedeutung oder dem Inhalt, dass sie “darbieten” oder “nicht darbieten”, viele davon ursprünglich aus den ausgestorbenen Stämme oder längst vergessenen und nicht mehr zu verstehenden Sprachen stamend, je nach deren melodischen Linie bzw. ihrer Abwesenheit in Form von Tönen, Onomatopäen, Aufrufe oder Seufzen, stellen eine Manigfaltigkeit der menschlichen Stimme und dessen Leibes dar. Den Aussagen von Shamal Amin und Nigar Hasib selbst zufolge “es handelt sich hier um eine neue Sprache, nicht linguistischer Natur, eine sogennante Künstlerische Sprache des Welttheaters, die grundsätzlich mit dem Auftritt, mit den Gegenständen, Subjekte und Erzählungen eng verbunden ist.

Im Lalish Theaterlabor gibt es keine Aufführungen im klassischen Sinne des Wortes. Die Performansen dieses Theaters stützen nicht auf die klassischen Erzählmustern mit Anfang, Entwicklung und Auflösen bzw. Ende. In diesem Theater jeder findet seine Erzählung. Diese Erzählungen funktionieren unabhängig von einander. Es besteht weder das Bedürfniss sie aneinander zu binden noch eine einzige Erzählung mit einem bestimmten Ihnalt darzustellen.
Anderes gesagt, “die Lieder und die Stimmen sind nicht um eine dramatische Erzählung bemüht und verbinden somit auch keine zwei Szenen zueinander”. Die Lieder zeichnen bestimmte Handlungen aus oder passen sich einer bestimmten Situation an.


Es ist herauszuragen, dass die Schauspieler im Lalish Theaterlabor keine Rollen spielen. Sie verkörpern weder jemanden noch versuchen sie nachzuahmen. Sie stellen sich selbst dar. Ausserdem, gibt es in diesem Theater keine Haupt- und Nebenrollen. Im Grundegenommen da ist jeder ein Hauptdarsteller.  Es ist ein Author, Regisseur und Schauspieler zugleich. Dem zufolge, kommt eine Aufführung von allen Beteiligten zustande. 
Es ist anscheinend, die Intuition, der Instinkt, das Bedürfniss selbst, dass durch die Stimme einen akustischen und körperlichen Gravitationsfeld schafft, in dem es ausreichend Platz für die Ideen, das Talent und die Kreativität aller Beteiligten gibt. Dies überspringt auch den klassischen Rahmen des Begriffs “Author sein” ebenso wie die des “Regisseurs”, “Schauspielers” und der “Aufführung” selbst. Denn, während einer Aufführung das Lalisch Theater gibt einem die Möglichkeit mehrere Aufführungen zu schauen. Ebenso kann schlussfolgert werden, dass in diesem Theater, innerhalb einer Aufführung, jeder hat sowohl seine Erzählung und Geschichte als auch seine eigene Aufführung.


Auf jeden Fall, im Lalish Theaterlabor sind die Stimmforschungen nicht nur mit einer/einigen Kulturen oder Identitäten verschiedener Nationen und/oder primitiven Stämme verbunden. Diese Forschung ist auch mit keiner Zeitspanne, Sprache, Ort oder Zivilisation zu identifizieren. Es ist von allen möglichen Hindernissen befreit, akzeptiert alles, bietet die gleiche Chanse für alle und ist an die Manigfaltigkeit der Modelle interessiert. Dies stellt ohne Zweifel die Praxis und Erfahrung dieses von allen Verurteilen befreites Theater dar, dass zugleich aufgeschlossen für dieverse Bühnenrelevante Werte dieser oder jender Kultur ist. Für das Lalisch Theaterlabor sind von gleichen Bedeutung sowohl die Stimm- und Körperlichen Techniken der östlichen Kulturen und des nordischen Anatolliens als auch die der westlichen Theaterkultur.

Daher ist das nicht verheimlichte, sondern sehr offen gezeigte Interesse für die Albanische Kultur, seites der Nigar Hasib und Shamal Amin während einer Kosova-Reise, nicht als Zufall zu betrachten. Denn, die Albanische Kultur mit ihrem reichen Ethnos bietet eine sehr impresive Entdeckung von großem Interesse für ihre fortzusetzende Tätigkeit. Es ist also nicht zu wundern falls es demnächst vorkommen sollte, dass uralte Albanische Lieder und Rituale als Inspiration für ihre Künstlerische Schöpfung gahlten werden. Es wäre nämlich sinnvoll, wenn sie der Forschung dienen neue Wege des Theatermachens zu untersuchen und zu finden. In diesem Fall, das Lalisch Theater wäre in der Lage einer “hörbare” Stimme, in eine “sichtbare” zu verwandeln.


Verfasser: Bekim LUMI, Albanischer Regisseur und Theaterpädagoge.

Übersetzt aus dem Albanischen von Gonxhe BOSHTRAKAJ, Medienwissenschaftlerin
Prishtina, 2006