"Warten auf Godot" im Zimmertheater

Shamal Amin und seine radikale Inszenierung

Performerinnnen: Nigar Hasib und Frmesk Mustafa
1987 in Bagdad, Sulaimania und Kerkuk/Irak


Nur zwei Frauen, eine Puppe, ein ein Meter langes Seil, ein paar Schuhe auf einer zwei Quadratmeter großen, schwarzen und leeren Fläche. In einem Zeitraum von ca. einer Stunde und dreißig Minuten, wurde die ganze Handlung von den beiden Performerinnen Nigar Hasib und Frmesk Mustafa in Sitz-, Knie- und Liegepositionen vollzogen, denn während dieser Zeit standen die Performerinnen nicht auf. Das war Shamal Amins Inszenierung von Samuel Becketts Warten auf Godot, die von den Zuschauern und den Kritikern mit großer Begeisterung aufgenommen wurde. 27 Aufsätze wurden über diese Inszenierung in kurdischer, arabischer und englischer Sprache geschrieben. Sie wurde mehrmals mit viel Erfolg für ein großes Publikum aufgeführt. Dies wurde 1987 als eine der interessantesten und wichtigsten experimentellen Aufführungen bezeichnet.

Zwei Aspekte in der Aufführung begeisterten Zuschauer und auch Kritiker, nämlich die Darstellung des Stückes von zwei Frauen und das Verschwinden des Baumes. Dies war der radikalste Schritt bei der Inszenierung dieses Stückes in der Theatergeschichte. Der durch den Baum repräsentierte Zeitkonflikt fiel bei dieser Inszenierung völlig weg, ein entbehrliches Requisit, sondern der Körper war alles. Im Endergebnis (so auch Grotowski) fielen die Zeitspanne zwischen inneren Impulsen und äußeren Reaktionen weg, der innere Impuls war gleichzeitig die äußere Reaktion. Impuls und Aktion fielen zusammen: die Physis löste sich auf, verzehrte sich, und der Zuschauer sah lediglich eine Reihe sichtbar gewordener Impulse.

Shamal Amins Inszenierung zielte auf eine Technik der Einbeziehung aller psychischen und körperlichen Kräfte der Performerinnen, die aus den intimsten Schichten ihres Seins und ihrer Instinkte hervorgehen und in einer Art "Durchstrahlen" hervorsprudelten. Bei dieser Aufführung war Shamal unmittelbar von Grotowski beeinflusst, wie er selber in einem Gespräch betont:
(...) Ich tue das, nicht um Grotowski zu imitieren, sondern um in einer bestimmten Phase meine Entwicklung in Übereinstimmung mit ihm abzustimmen, weil ich das Bedürfnis habe, mich mit ihm zu konfrontieren. Grotowski zu spüren, zu testen.

Aber ich bleibe dabei ich selbst. (...) Meine Begegnung mit Grotowski ist keine chaotische Frühgeburt, und ich will mich nicht durch Grotowski verwirklichen, weil das ein Irrtum wäre. Weil die Suche nach sich Selbst nur durch sich Selbst möglich ist. Dies ist die einzige Möglichkeit der Freiheit und der Selbst- Äußerung. (...) Grotowski fasziniert mich, aber nicht als Modell für eine bestimmte Arbeitsform. (...) Ich will durch ihn keine bestimmten führenden Richtungen herausfinden. Weil Sich-Äußerung durch die Anderen ist nur ein Versuch, um eigene Schwäche zu verdecken. Ich betrachte Grotowski als einen besonderen Theatermann. Ich verstehe Grotowski als einen Derwisch, und seine Suche nach totalem Akt und nach Vereinigung der Gegenstände ist wirklich eine Art Derwischansatz.

Shamal Amin versuchte, um die Anwesenheit des lebendigen Organismus zu ermöglichen, alle Distanzen aufzulösen. Erster Schritt für die Auflösung dieser Distanzen begann mit der Überschreitung des aufgeschriebenen Textes, in dem zwei Frauen die Handlung dargestellt haben. Außerdem hatte die Technik des Zimmertheaters eine wesentlich experimentelle Auswirkung. Aber auch die Verwendung von alten Liedern, zwei Sprachen (kurdisch und arabisch) und traditionelle Kinderspiele des Ostens.

Die Figuren sind alt geboren und dann Kinder geworden, sie starben und standen auf, sie kehrten in die Gebärmutter zurück, sie wurden gekreuzigt. Der Körper und die Stimme spielten eine wichtige Rolle. Die Aufführung war das Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses. Die Entwicklungsstadien zogen sich über eine Dauer von sechs Monaten intensiver Arbeit. Die Proben wurden in verschiedenen Räumen und Orten durchgeführt: in großen Räumen, im Zimmer, in der Küche, in der Bibliothek, im Hof und im Garten.

Wir sind überall, und wir arbeiten überall.
Wir kennen überhaupt keine Grenzen..

So äußerte sich Shamal Amin.

Eine der wichtigsten Szenen war die detaillierte Arbeit mit den Schuhen. Die Performerinnen zeigten ein hohes, wirksames, körperliches und stimmliches Können bei der Aktion mit den Schuhen, so dass es zu spontanen Begeisterungsrufen der Zuschauer kam. Manchmal wurden die Schuhe als Kinderspielzeug, Tier - ein Pferd -, oder auch als Boot verwendet. Es wurde auch sehr detailliert mit den Händen und Füßen gearbeitet, so dass sie eine Vielzahl von Zeichen und Bedeutungen zeigten, z. B. das traditionelle Händelesen und seine Verbindung mit dem Warten.
Der Körper der Performerinnen war für Shamal Amin in Warten auf Godot kein Instrument, er war weder ein Ausdrucksmittel noch Material für bestimmte Zeichenbildung, noch ein Mittel der Repräsentation. Er war viel mehr der Ort, an dem die Performerinnen sich als freie Menschen äußern können.

Die Inszenierung war der Versuch den Körper allen Ausbeutungen, allen körperlichen Tabus widerstehen zu lassen. Deshalb wurde die Anwesenheit des Körpers der Performerinnen nicht nur mit dem Blick des Zuschauers, sondern mit allen seinen Sinnen wahrgenommen. Jeder, geprägt durch seine soziale und politische Struktur, interpretierte die Aufführung unterschiedlich. In Kurdistan wurde das Stück als Symbol für die Freiheit verstanden, und in Bagdad als Symbol für den Tod des Diktators. Deswegen erschienen manche Kommentare unter dem Titel: Godots ewige Wiederkehr, Irakisches Warten auf Godot, Wir und Godot. Das heißt, dass die Aufführung nicht nur durch ihre experimentellen Techniken diesen Erfolg erlangt hat, sondern löste viele Frage auf politischer Ebene im Irak und in Kurdistan aus.

In einem Brief von Bagdad nach Sulaimania an einen Freund schrieb Shamal Amin: "Ich und Grotowski zwischen zwei Welten"

„Ich habe diesen Brief am zwölften Abend der Aufführung von Warten auf Godot geschrieben, und du weißt sicher von dem Erfolg der Aufführung durch die Zeitungen.

Vorige Woche sagten mir einige Geheimdienstmänner in der Akademie, dass ich nicht gut daran getan habe einen Kommunisten als Vorbild für meine Theaterarbeit auszuwählen. Ich fragte, wen sie wohl damit meinen? Sie haben gesagt: Grotowski!
Es ist lächerlich. Ich werde verhört und fast verhaftet, man wollte meine Aufführung stoppen, weil ich von einem Kommunist beeinflusst bin, während Grotowski selbst in seiner Heimat darunter gelitten hatte, weil er kein Kommunist war!
Eine  weitere lächerliche Situation habe ich gestern Abend erlebt. Die Geheimdienstmänner haben mich bedroht und gewarnt, dass ich nicht mehr  Stücke von Samuel Beckett aufführen darf, weil dieser eben das absurde Denken präsentiert, und das ist Imperialismus.

Das irakische Regime beschuldigt mich einerseits des Kommunismus und des Imperialismus andererseits. Wenn es ihnen gelingt, werden sie die beiden Personen mit mir aufhängen“

Während mehrerer öffentlichen Diskussionen über die Aufführung in Bagdad und Kurdistan, waren sich die meisten Kritiker einig, dass der Körper und Theater haben hier aufgehört als Zeichen oder Instrument, als Material oder auch als Medium zu fungieren, sie sind zum Ort der "Wiedergeburt" des Menschen, seiner Freiheit, seiner menschlichen Prozesse geworden. Deswegen ist die Rolle hier kein Ziel und kein Zweck der Körperfunktion, sondern ist für Erreichen eines anderen Zieles da.
Das ist der richtige Weg zum totalen Akt, die Sich-Verwandlung in einem anderen neuen Menschen. Das soll uns nicht überraschen, weil nicht nur die kurdische experimentelle Theatergruppe, sondern das ganze kurdische Volk durchläuft einen Prozess.
Natürlich sind diese Äußerungen von der Weltanschaulichkeit von Grotowski hinsichtlich der Funktion des Schauspielers, unmittelbar beeinflusst.

Die Wirkung der Aufführung konnte ausschließlich auf der Beziehung zwischen den physisch präsenten Performerinnen und den physisch präsenten Zuschauern beruhen. Um dies unmittelbar erreichen zu können, versuchte Shamal Amin alle Distanzen zwischen dem Zuschauer und den Performerinnen abzuschaffen. Die Performerinnen mussten in Konfrontation mit dem Zuschauer in ihrer Gegenwart spielen.

Shamal Amin schuf für jede seiner Inszenierungen eine neue räumliche Anordnung. In Godot war der gesamte Raum ein "Warteraum". Die Zuschauer saßen auf Bänken, die an mehreren verschiedenen Orten im Saal aufgestellt waren, und wurden als "Wartende" behandelt. Die direkte Konfrontation im Zimmertheater, bei der der Zuschauer nur auf Armeslänge von den Performerinnen entfernt war, können beide Ensemble den Atem voneinander spüren, den Schweiß riechen.


Nigar Hasib
Wien, 2000
In: Lalish Zeitschrift/ Heft Nr. 1 – 2000 Wien;  von Lalish Theaterlabor/Forschungszentrum für Theater und Performance-Kultur