Meine Begegnung mit Ohno Kazuo

Juli 2002 reiste ich nach Japan/Tokio, um am JALLA Festival teilzunehmen. Dabei kam es, dass ich einen Butoh Tänzer kennen lernte, der auch an dem Festival teilgenommen hatte. Er sah meine Performance und fragte, ob ich nicht Interesse hätte, diese Performance auch im Dance Studio von Ohno Kazuo in Yokohama durchzuführen! Und er wäre bereit alles zu organisieren. Natürlich und ohne Verzögerung, habe ich zugesagt. War nicht so ganz leicht, aber es wurde alles per Telefon erledigt und der Termin wurde für Dienstag, den 16.Juli festgelegt. Von Tokio aus sollten wir mit dem Zug nach Yokohama fahren. Ein japanischer Journalist begleitete uns und sogar die Zugtickets wurden bezahlt. Von dem Butoh Tänzer hatten wir die genaue Adresse bekommen.

  Ohno Kazuo tanzt für Nigar Hasib mit den Händen

Drei Tage davor war ich auf Besuch bei einer kurdisch-japanischen Familie nördlich von Tokio. In der Nacht auf 16. Juli hat ein sehr starkes Unwetter ganz Japan und insbesondere Tokio und Umgebung heimgesucht. Ich war noch nicht ganz eingeschlafen, als auf einmal alle Fenster aufeinander zu schlagen begannen. Ich dachte mir, was ist denn da  passiert? Ich hatte schon vor einigen Tagen so ein Unwetter erlebt, und man hat immer wieder gesagt, dass es in dieser Jahreszeit viele Taifune geben werden, aber so stark hatte ich es noch nicht erlebt.  Regen, Sturm, ein Taifun in vollsten Sinn. Er richtete schweren Schaden an und der Verkehr brach zusammen. Bis ca. Mittag des nächsten Tages legte dieser Taifun sämtliche Züge nach Yokohama und Umgebung lahm. So vieles ging mir durch den Kopf. Ich war sehr aufgeregt, viele Fragen haben mich beschäftigt. Meine Gefühle schwankten zwischen Freude, Aufregung, Nervosität und Angst. Angst davor, dass ich wegen dieses Taifuns vielleicht die Chance nicht bekäme, diesen großartigen Künstler zu treffen. Mein Flug nach Wien war schon für den Tag darauf gebucht.

Ohno Kazuo und sein Sohn Yoshito bei der Beobachtung der Performance"Sonnentanz"

 
  Nigar Hasib in Aktion
in Kazuo Ohno Butoh Dance Studio, Yokohama/Japan 2002

Ohne ein Wort zu verstehen, verfolgte ich ständig die Nachrichten im Fernsehen und beobachtete, wie die Bilder der Wettervorschau sich änderten. Selbst die Gastgeberin hat immer wieder nachgesehen, ob die Züge bald wieder regelmäßig fahren würden.
 
Allmählich zeigte sich die Natur aber wieder von ihrer anderen Seite. Ab ca. 12 Uhr 30 lockerten sich langsam die dicken Wolken am Himmel, es hörte auf zu regnen und der Wind wehte nicht mehr so stark. Die Sonne kam heraus und sehr bald verschwand fast jede Spur von dem vergangenen Unwetter auf den Straßen. Hier und da blieben ein paar Bäume und Äste liegen, aber auch die wurden sehr schnelle aufgeräumt. Und es war wieder sehr heiß geworden.
Zeit einzupacken! Der Zubehör der Performance lag noch im Tokio Metropolitan Art Museum. Die Materialien wurden abgeholt und Richtung Yokohama gefahren.
Die Fahrt bis dahin dauerte ungefähr 2 Stunden und 30 Minuten. Um ca. 18 Uhr kamen wir in Yokohama an. Von der Station bis zum Studio waren es um die 20 Minuten zu Fuß. Wir sollten von der Hauptstraße bis ins  Studio hinauf genau 88 Stufen steigen. Auf der letzten Stufe, vor der Tür des Studios und bevor wir hineingingen, haben wir noch kurz Rast gemacht, Atem geholt, eine Zigarette geraucht und Wasser getrunken. Während dessen hatten mich viele Fragen beschäftigt: Wie wird das heute alles ablaufen? Was erwarte ich von dieser Begegnung? Wie werden wir auf einander wirken? Und noch so vieles mehr
Ich hatte mich schon lange mit Butoh Tanz beschäftigt. Die Geschichte seines Ursprungs und seiner Entwicklung,  seine Wirkung, aber insbesondere die Wirkung, welche die Person Kazuo Ohno auf mich hatte, war immer sehr stark gewesen.. Deshalb wollte ich diese Begegnung einfach auf allen Ebenen genießen, so dass sie zu einem der unvergesslichen Erlebnisse meines Lebens würde.
Wir wurden sehr herzlich empfangen und in das Studio gebracht. Ein sehr einfacher, nicht all zu großer Raum, voller Requisiten, Schränke, Kleider, Materialien, einem Kühlschrank,  Herd, Waschbecken, CD-Player, einem Sessel, einem niedrigen Tisch und noch einiges mehr. Gleich anschließend und nicht getrennt vom Studio, befand sich das Haus von Kazuo Ohno, samt einem wunderschönen, archaisch anmutenden Garten.

Es war ein Dienstag und das Studio hatte offene Tür. Drei Mal in der Woche gab es offene Arbeit, an der jeder teilnehmen konnte. Wir waren die ersten. Ein Tänzer war gerade mit der Raumvorbereitung beschäftigt und wischte den hölzernen Boden in sehr rhythmischen Bewegungen ab.

Langsam kamen andere dazu. Die warfen einen Beitrag in eine Box ein, die an der Wand bei der Eingangstür angebracht war. Barfuss und auffallend ruhig begannen sie zu arbeiten. Diese Arbeit wurde kommentarlos von Yoshito, Kazuo Ohno’s Sohn, geleitet.
Die Körperarbeit war sehr frei und individuell geprägt. Die TeilnehmerInnen, die meisten von ihnen verschiedenen Alters, tanzten zu unterschiedlicher Musik, die von einem CD-Player abgespielt und alle 10 Minuten von Yoshito gewechselt wurde. So absolvierten sie einige Runden. Nur einmal hatte Yoshito zu einem Teilnehmer ganz leise direkt gesprochen und Anmerkungen gegeben. Wie lange und intensiv diese TeilnehmerInnen sich mit Butoh Tanz bereits beschäftigt hatten, wusste ich nicht, und das war auch nicht meine Sorge! Aber sie haben alle sehr konzentriert und interessant gearbeitet.

In den letzten 10 Minuten der Arbeit wurde der Meister „Kazuo Ohno“ persönlich in den Raum gebracht. Da er schon 96 Jahre alt war und kaum mehr gehen konnte, wurde er von zwei Begleitern unter den Armen gestützt.. Er setzte sich auf den Stuhl.

Das war ein ausgesprochen überwältigender Moment für mich. Er war wirklich charismatisch und hat den Raum mit einer enormen Kraft erfüllt.

Er begrüßte alle Anwesenden mit Blick und Kopfnicken. Die Tänzer, von denen jeder nun einen Stock in der Hand hielt, standen ihm im Halbkreis mit geschlossenen Augen gegenüber, ein niedriges helles Licht sorgte für eine sehr rituelle Atmosphäre und erzeugte eine stimmungsvolle Wirkung auf uns.

Die Atmosphäre war derart  bewegend, dass ich, ohne es zu wissen, zu weinen angefangen habe!!
Eine lange Geschichte voller Freude und Schmerzen, zwei Weltkriege, Hiroschima,  Applaus, Liebe, Erfolge, Ablehnungen und vieles mehr, zogen wie ein Filmstreifen vor meinen Augen vorbei.
Es wurde nun ein altes japanisches Lied abgespielt, ebenfalls sehr stark und wirksam. Das Lied hatte auf einmal eine noch mehr gesteigerte, unbeschreibliche rituelle Atmosphäre geschaffen. Ich bekam eine Gänsehaut und hatte das Gefühl, dass jeder und jede von uns versuchten, das Absolute zu erlangen, jegliche Grenzen zu überschreiten und alle  Masken abzulegen, um die Wahrheit zu erreichen. Es war ein sehr kathartischer Moment. Es war der Moment der Selbstrealisierung und -Entblößung.
Kazuo Ohno, auf seinem Sessel, begann langsam durch seinen Oberkörper, mit seinen Händen, Augen und seinem kleinen Kopf zu tanzen.
Erstaunlich sagte ich mir in diesem Moment: Oh, du Mensch, wie groß du bist, wie du an deinen Träume und Zielen festhältst und wie kämpferisch du bist, um sie zu verwirklichen. Wie du dein körperliches Können bis zum letzten Atemzug zeigst, wie du deinen müden Körper nicht sich selbst überlassen kannst!

Dann war es soweit, dass wir unsere Performance zeigten. Alle haben sich bereitgestellt, um bei der Raumvorbereitung zu helfen. Eine einzige Sache für mich war wichtig; meine Begegnung mit diesem Menschen, meine Geschichte auf seine Geschichte, mein Leben auf seines, meine Kultur auf seine Kultur, meine Erfahrung auf seine, meinen „Sonnentanz“ auf seinen „Tanz der Dunkelheit“ treffen zu lassen!

Ohne Zweifel war seine Wirkung auf mich sehr stark und überwältigend, das war nicht zu übersehen! Aber wie werde ich auf ihn wirken?
Der Raum war sehr klein und ich befand mich den Anwesenden, die nun im Kreis auf dem Boden saßen, sehr nahe gegenüber. Die Decke war niedrig. Wir waren insgesamt 24 Personen im Raum. Alles war sehr eng und trotzdem fühlte ich so eine unendliche Breite, wenn ich Kazuo Ohno so ruhig auf seinen Sessel sitzen sah, wie er zuhörte und zuschaute.

Ohno Kazuo 2002 in seinem Butoh Dance Studio in Yokohama/Japan

Nachdem die Performance fertig war, applaudierten und gratulierten uns alle. Es wurde sehr schnell etwas zum Essen und Trinken vorbereitet, es gab Sushi und Sake. Kazuo Ohno bedankte sich sehr leise und begann wieder in dem Sessel zu tanzen. Ich möchte versuchen diesen Tanz hier einmal kurz zu beschreiben, falls mir das gelingen sollte:

Der ganze Tanz bestand aus einigen einfachen, wiederholten Hand- und Kopfbewegungen. Er schloss seine Hand und legte sie auf sein Herz, dann die andere Hand. Und dann streckte er beide seine Hände nach oben, zu Himmel hinauf.

Es schien mir, als ob sein Herz ein Vogel wäre und er wolle ihn aus einem Käfig befreien. Es schien mir, als ob er versuchte zu fliegen. Ich hatte das Gefühl er wollte uns alle mitnehmen, er wollte uns eine Zeit zeigen, in der er jung und voller Körperkraft war.
Seine Hände zitterten, seine kleinen Augen waren voller Tränen. Mit jeder Bewegung seiner Hand, habe ich gesehen, wie er einen Körper im Raum befreite, es war unser Körper. Ab und zu schaute er uns an und wiederholte  die Bewegungen, als ob er damit jedem von uns etwas sagen wollte. Ich begann wieder zu weinen, nahm ein Foto mit ihm zusammen, legte meine Hand in seine Hand und spürte seine Wärme.

Sein Sohn sagte, dass er sich damit für die Performance bedanken wollte und schenkte unszwei Bücher von Kazuo Ohno. Und da es spät geworden war und der letzte Zug nach Tokio bald fahren würde, hatten wir nicht länger Zeit zum Essen. Wir verabschiedeten uns und schenkten dem Studio auch ein Foto von einer unserer Lalish Theaterlabor Performances. Man hat uns noch das Essen eingepackt, damit wir es im Zug zu essen könnten.

Ich weiß nicht, ob ich Kazuo Ohno je wieder sehen werde. Wird er noch so lange leben, dass es mir gelingt wird, ihn wieder zu sehen, oder nicht?!

Hauptsache habe ich diese Begegnung einfach auf allen Ebenen genossen, so dass sie zu einem der unvergesslichen Erlebnisse meines Lebens geworden ist.

Nigar Hasib, Wien, am 8.8.2002

P.S: Obwohl ich danach noch zwei Mal in Japan war, nämlich in 2004 und in 2006, ist mir leider nicht mehr gelungen Kazuo Ohno noch einmal  zu treffen. Er war schon sehr alt und krank gewesen, aber vielleicht lebt er noch viel, viel länger und das nächste Mal wird es dann wieder so weit sein!!